Wenn über Nord- und Ostsee die Sonne scheint und der Wind weht, haben die norddeutschen Stromnetze Dauerstress. Wird zu viel Strom in die Netze eingespeist, der keine aktuelle Nachfrage findet, ist die Netzstabilität gefährdet. In Ostdeutschland produzieren bisweilen Windkraft- und Photovoltaikanlagen bei voller Leistung mehr Strom als die verbliebenen sieben Atomkraftwerke. Die Folge ist, dass bei einem Überangebot an Strom Windkraftanlagen abgeschaltet werden müssen. Denn das Überangebot drückt die Preise an der Leipziger Strombörse. Teilweise wird der überschüssige Strom unter Erzeugerpreis ins Ausland verramscht. Beide Konsequenzen belasten die Anlagenbetreiber und deren Agenturen für den Direktvertrieb. Je genauer aber die Akteure Stunden oder gar zwei Tage im Voraus auf Grundlage der Wetterdaten wissen, welche Produktionsmengen zu erwarten sind, desto besser können sie das Angebot auf die Nachfrage ausrichten. Stromanlagenbetreiber mit fossilen Energieträgern wie Gas und Kohle planen dann ihre Produktion entlang der berechneten Erzeugung der Erneuerbaren. So wird deren Vorrang sichergestellt und gleichzeitig die Netzstabilität gewährleistet. Das Technologieunternehmen enercast GmbH aus Kassel leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Seit 2011 ist es auf präzise Leistungsprognosen von Wind- und Solaranlagen spezialisiert. Zusammen mit den Fachgebieten Software Engineering (SE) und Intelligent Embedded Systems (IES) der Universität Kassel programmierten sie nun ein BigEnergy genanntes Softwaretool mit Künstlicher Intelligenz (KI), das die Prognosequalität nachhaltig steigert.
Analyse von bis zu 40 Gigabyte Wetter- und Erzeugerdaten pro Tag
Echtzeitprognosen der Energieproduktion aus Wind- und PV-Kraftwerken sind heute für ein bis zehn Stunden möglich. Sie basieren auf kurzfristigen Wetterdaten sowie der aktuellen Produktion. Der Nutzen für die Anwender liegt in der besseren Planbarkeit der erneuerbaren Energie bei wechselhaften Wetterlagen. Die Prognosen basieren auf Abermillionen Daten, die bislang mit statistischen Verfahren ausgewertet wurden. Allerdings ließen sich historische Zeitreihen bisher nur schwer integrieren, weil dabei enorme Datenmengen auszuwerten sind. Es standen hierfür keine geeigneten Auswertungsverfahren zur Verfügung. Um dieses Problem zu lösen, gewann enercast die Fachgruppen IES und SE der Uni Kassel für das Projekt. Das Fachgebiet IES brachte umfangreiche Erfahrungen im Bereich Zeitreihenanalysen ein. Ziel war, aktuelle und historische Wetterdaten in eine Korrelation zu möglichen Produktionsmengen erneuerbarer Energien zu bringen, um die Prognosen nachhaltig zu verbessern und den Prognosezeitraum zu verlängern. Für die Wind-Prognosen nutzte enercast eine KI-Technologie aus Maschinenlernverfahren mit einem künstlichen neuronalen Netz sowie ein physikalisches Kennlinienmodell. Für die Solarprognosen nutzten sie eine physikalische Simulation. Beide Ansätze haben Stärken und Schwächen, weshalb bei BigEnergy beide Verfahren kombiniert wurden. Da im Projektzeitraum mehrere neue, detailliertere und umfangreichere Wettermodelle integriert wurden, stiegen die auszuwertenden Datenmengen auf bis zu 40 Gigabyte pro Tag. Ausgehend von dem Algorithmen-Katalog und den Wettermodellen definierten die Projektpartner eine Vorhersage-Architektur und gemeinsame Schnittstellen. IES entwickelte sodann neue Algorithmen, skalierte sie und spielte sie an enercast zurück. Die Software-Bausteine integrierten die Entwickler durch die gemeinsame Architektur in bestehende Prognosetools.
KI identifiziert Muster aus historischen Wetterdaten
Ein zentraler Aspekt der KI und im Machine Learning ist die Möglichkeit, Muster zu erkennen und zu vergleichen. In den letzten Jahren wurden „Deep Neural Networks“ in Bereichen wie Bildverarbeitung oder Natural Language Processing verbessert. Diese Algorithmen wurden für BigEnergy angepasst und übertrafen schon bald klassische Techniken mit ihrer Vorhersagequalität. Zuletzt entwickelte das Fachgebiet SE eine hochskalierbare Microservice-Architektur sowie einen graphischen Editor, um die Algorithmen einfach miteinander zu verknüpfen.
Prognosefehler um etwa 27 Prozent verringert
Die Architektur und Algorithmen von BigEnergy wurden in die Prognoseplattform von enercast integriert. Über eine intuitive, webbasierte Benutzeroberfläche erhalten Nutzer nun direkten Zugriff auf Anlagen, Daten und Prognosen. Durch BigEnergy konnten Prognosefehler um etwa 27 Prozent verringert werden. Die verbesserten Leistungsprognosen helfen mittlerweile weltweit dabei, die erneuerbaren Energien optimal ins Stromnetz zu integrieren. So erhöhen sie die Stabilität der Stromnetze, reduzieren notwendige Eingriffe der Netzbetreiber und senken Kosten für teure Ausgleichsenergie aus fossilen Energien.
Dieses Projekt (HA-Projekt-Nr.: 472/15-14) wurde von April 2015 bis Dezember 2017 im Rahmen der Innovationsförderung Hessen aus Mitteln der LOEWE – Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz, Förderlinie 3: KMU-Verbundvorhaben gefördert.
Stand: Dezember 2018
Text: Christian Gasche
Dr. Henning Schulze-Lauen
info@enercast.de
enercast GmbH
Universitätsplatz 12
34127 Kassel
www.enercast.de
Prof. Dr. Albert Zündorf
zuendorf@uni-kassel.de
Universität Kassel
Wilhelmshöher Allee 73
34121 Kassel
www.uni-kassel.de